Mit Zug und Bus ins Thal im Solothurner Jura. Unser erstes Ziel sind die Wisente, die im September 2022 vom Tierpark Langenberg hierher transferiert worden sind. In ein grosses Gehege, als erster Schritt Richtung Auswilderung.
Unter Auswilderung versteht man den Prozess, Tiere, die in Gefangenschaft aufgezogen wurden, langsam an ein Leben in der freien Natur zu gewöhnen. Mit dem Ziel, dass sie sich dauerhaft dort ansiedeln und selbständig fortpflanzen. Zu diesem Prozess gehört natürlich auch, dass sich die Menschen in der Umgebung an die neuen Nachbarn gewöhnen.
Bis ins Mittelalter bevölkerten Wisentherden die Wälder Europas. Wie die Bisons, ihre Verwandten in Nordamerika, haben die Menschen auch die Wisente gejagt und diese Anfang des 20. Jahrhunderts in der freien Wildbahn ausgerottet. Die Art hat einzig dank einiger Exemplare, die in Zoos und Tiergärten gehalten wurden, überlebt.
Heute gibt es dank Zucht- und Auswilderungsprojekten wieder zahlreiche freilebende Herden, vor allem im Kaukasus, in Polen, der Slowakei, Rumänien und Deutschland. Und nun also auch in der Schweiz – oder zumindest fast: Wie üblich hierzulande, wird ein solches Projekt sachte angegangen – unter Aufsicht und mit naturwissenschaftlicher Begleitung (für die Tiere) und psychologischem Support (für die Menschen) . Deshalb werden die Schweizer Wisente, die im Wildnispark Zürich in Gefangenschaft aufgewachsen sind, vorerst auf ein 100 Hektar grosses Areal in die Halbfreiheit entlassen.
Wir haben Glück: Im hohen Gras gleich hinter dem Eingangstor entdecken wir ein Prachtexemplar beim Wiederkäuen. Auch auf Distanz sind seine Masse eindrücklich, was nicht weiter erstaunt: Der Wisent ist das grösste noch lebende Landsäugetier Europas.
© Peter Neuhaus, 2024
Plötzlich taucht ein zweiter wuscheliger Kopf aus dem Grün auf – etwas weiter hinten bewegt sich ein Schwanz… Schliesslich zählen wir sieben, acht, neun Tiere – darunter zwei Kälber. Das eine von ihnen tut uns sogar den Gefallen, steht auf und posiert im Sonnenlicht.
Ein schöner Anblick, den wir selbstverständlich mit unseren Kameras festhalten. Dann gehen wir weiter, überqueren eine Strasse, wo Autos und Töffs mit heulenden Motoren vorbeiflitzen und fragen uns, ob die Wisentherde hier eines Tages tatsächlich und ganz ohne Zaun wieder heimisch werden kann.
Unser Weg führt nun steil bergauf, durch die wild-romantische Wolfsschlucht. Ob sie ihren Namen tatsächlich Wölfen verdankt, die vor langer Zeit hier gelebt haben, bevor auch sie vertrieben und geschossen wurden, ist nicht belegt. Vorstellbar wäre es – wie auch die Rückkehr des Wolfs, in diese Landschaft. In den letzten Jahren gab es vereinzelte Wolfsbeobachtungen in der Region, allerdings in einem Gebiet etwas südlich der Schlucht.
Dass der Wolf «seine Schlucht» im Solothurner Jura tatsächlich je zurückerobern wird, ist aber unwahrscheinlich – insbesondere seit der von Bundesrat Rösti verordneten Abschussbewilligung ganzer Rudel. Mensch und Wisent im kleinen Schweizerland geht vielleicht, Mensch und Wolf aber kommen sich, wie es scheint, zu sehr ins Gehege.
Solches gilt nur in beschränktem Mass für die zahlreichen Schnecken im Thal. In der Schlucht geduldet, sind sie aber in der Menschenfreizeit von Vibramsohlen und MTB-Bike-Pneus bedroht, weil zu wenig flink. Wir blicken deshalb aufmerksam vor unsere Wanderfüsse und retten einige Hüslischnecken vor dem Zerquetscht-Werden. Unsere Aufmerksamkeit wird belohnt: Am Wegrand können wir zwei fette rote Wegschnecken beim Kopulieren beobachten.
Mittag ist schon vorbei, langsam knurrt der Magen. Wir erreichen eine Lichtung, am Waldrand ein bequemer Baumstamm. Nicht nur unser Rastplatz – wie wir gleich bemerken, handelt es sich um einen Logenplatz erster Klasse für eine unerwartete Vorstellung.
Sie beginnt mit dem Auftritt von drei Frauen, einem Mann – alle in orangen Gilets, auf dem Rücken in grossen Buchstaben REDOG. Begleitet werden sie von einer alerten Golden Retriever-Hündin, die ebenfalls mit einem orangen Gstältli ausgerüstet wird.
Ihre Führerin kniet zu ihr hinunter und weist mit gestrecktem Arm in Richtung Feld. Ein kurzer Befehl und die Hündin pfeilt den Gegenhang hoch, kreuzt blitzschnell nach links, nach rechts – verschwindet zeitweise im hohen Farn, um gleich wieder aufzutauchen…
© REDOG
REDOG, geht mir durch den Kopf – das sind doch die Hundeteams aus der Schweiz, die nach Erdbeben zur Bergung von Verschütteten losgeschickt werden – bekannt aus Presse und Fernsehen… Hier nun also live im Einsatz! – Oder besser gesagt am Trainieren, wie wir sogleich erfahren.
Während wir dem Treiben fasziniert zuschauen, kommt der Mann aus der Gruppe auf uns zu und legt ein Stück rotes Seil auf den Boden vor unseren Füssen. «Die Hunde sind darauf trainiert, sitzende und liegende Menschen zu detektieren – falls sie also zu euch kommt…», sagt er und klärt uns auf, dass es sich bei der jungen Hündin um ein Tier handelt, das noch in der Ausbildung steckt.
Dieses würdigt uns jedoch keines Blickes – sie ist am Gegenhang bereits fündig geworden und eilt nun zu ihrer Chefin, um diese zu holen. Ein Schauspiel, das sich in den kommenden Minuten mehrfach wiederholt: Ein ums andere Mal wird die Hündin losgeschickt, um eine im Hang versteckte Person zu detektieren und anschliessend ihre Hundeführerin an den richtigen Ort zu führen.
Nachdem sie ihr Training fertig absolviert hat, erhält sie grosses Lob – und der nächste Hund ist an der Reihe…
Sowohl Mensch wie Tier sind voller Hingabe bei der Sache – sogar als Zuschauerin spüre ich die ansteckende Verbundenheit und Freude, die hier ausgelebt wird. Ein unglaubliches Engagement, das weit über die Lust am gemeinsamen Training in der Natur hinausreicht.
Sein letzter Rettungs-Einsatz sei vor einer Woche gewesen, antwortet der Trainingsleiter auf unsere Frage. In Schaffhausen, ein Suizid. Zwanzig Hundeteams hätten nach einer vermissten Frau gesucht – und sie schliesslich auch gefunden. Tot.
Die Suche nach Vermissten, Verschütteten, Getöteten – das ist das Kerngeschäft der Rettungsteams von REDOG – und die Kehrseite des spielerischen Trainings, dem wir gerade beiwohnen. «Menschen und Hunde für Hilfe in der Not», lautet ihr Motto. Zu erreichen sind sie rund um die Uhr.
Der Trainingsleiter, der seit 30 Jahren für REDOG im Einsatz steht, drückt uns Werbeflyer des Vereins in die Hand. Wir merken uns die Notrufnummer (0844 44 11 44 ) – man weiss ja nie…
Als letzter Proband steht an diesem Samstagmittag ein Labrador im Einsatz. Kaum losgelassen, hat er die im Hang versteckte Person auch schon aufgespürt. «Der Labrador ist ein Arbeitstier – die sind so fix…», kommentiert unser Gewährsmann voller Respekt für die Leistung des Tiers.
In mir wächst derweil der Respekt insbesondere auch für die Leistung der Hundehalter:innen: Sie leisten ihre Einsätze in Freiwilligenarbeit – als Dienst an der Gesellschaft. Dafür erhalten sie lediglich Kilometerspesen vergütet.
Ein unglaubliches Engagement, im Zeitalter der Monetarisierung jeder noch so kleinen Dienstleistung, denke ich, während wir unseren Weg Richtung Balsthal fortsetzen. Vor allem angesichts der Tatsache, dass die Rettungsteams oft mit schweren, belastenden Situationen konfrontiert sind. – Chapeau!