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Neutralität und Friedenspolitik

Letzte Woche haben unsere Bundesrät:innen über die Neutralitätsinitiative beraten und diese erwar­tungs­gemäss abgelehnt. Rundum und ohne Gegenvorschlag. Die Absage an das von den Medien gerne als «SVP-» oder gar «Blocher-Initiative» titulierte Volksbegehren wurde von diesen denn auch begrüsst.

Neutralität sei ein überholtes Konzept heisst es fast unisono. Deren Verankerung in der Verfassung verhindere eine zeitge­mässe Aussenpolitik, das Völkerrecht sei wichtiger als «Neutralität» – gerade der Krieg in der Ukraine mache deutlich, dass man Partei ergreifen müsse für ein Land, das von einem Aggressor heimge­sucht werde.

Die medial verbreitete Botschaft täuscht jedoch. Dies nicht zuletzt, weil in unseren Mainstream-Medien einmal mehr nur die immer­gleichen «Expert:innen» zu Wort kommen. So werden jene Stimmen weitgehend unter­schlagen, die sich für die Neutralitäts-Initiative stark machen, aber mit der SVP und deren Absichten nichts, aber auch gar nichts am Hut haben.

Um «linken» Argumenten, die für die Neutralitätsinitiative sprechen, Gehör zu verschaffen, haben die Politologen Wolf Linder und Pascal Lottaz zusammen mit der Ethnologin Verena Tobler Linder Anfang Jahr den «Aufruf von Linken und Grünen: Ja zur Neutralitätsinitiative!» lanciert. *

Mit der Verankerung der Neutralität in der Verfassung, so die Autor:innen, gebe man der Aussenpolitik eine klare Richtung vor und signa­li­siere dem Ausland, was von der Schweiz zu erwarten sei: Die Schweiz tritt keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis bei und beteiligt sich weder an militä­ri­schen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten noch an Sanktionen gegen krieg­füh­rende Staaten. Nur so kann die Schweiz künftig wieder glaub­würdig als Vermittlerin zur Lösung von Konflikten auftreten.

Neutralitätsforscher Pascal Lottaz skizziert in der aktuellen Ausgabe von «Unsere Welt», der Zeitung der Schweizerischen Friedensbewegung, die Bedeutung der Unparteilichkeit gerade in Bezug auf Friedenspolitik: «Die Neutralität ist nicht gegen diesen oder jenen Staat zu verstehen, sondern für alle und jeden, der mit uns arbeiten will. Wir engagieren uns für das Gemeinwohl der ganzen Staatengesellschaft und lassen uns nicht von der einen oder anderen Interessengruppierung in deren Konflikte oder gar deren Kriegslogik einspannen.»

Dies steht in krassem Gegensatz zur aktuellen Positionierung der Schweizer Politik im Ukrainekrieg. Schon in der Vergangenheit hatten Politiker:innen von rechts bis grün durch ihre neutra­litäts-widrigen Unterstützung der USA und Deutschlands die Schweiz als Vermittlerin zwischen den Kriegsparteien unmöglich gemacht. Endgültig verrannt hat sich der Bundesrat schliesslich mit dem vom ukrai­ni­schen Präsidenten orche­strierten Treffen auf dem Bürgenstock.

Verrannt hat sich aber nicht nur der Bundesrat – auch im Lager von selbst­er­nannten Pazifist:innen und Antimilitarist:innen hat der Ukrainekrieg Windfahnen und Wendehälse hervor­ge­bracht. Allen voran bei der GSoA (Gruppe für eine Schweiz ohne Armee), die vor 40 Jahren angetreten ist, die Schweizer Armee abzuschaffen.

Statt gegen die Aufstockungen von Militärbudgets und Einbindung in die Nato zu prote­stieren, ruft die GSoA nach stärkere Parteinahme für die Ukraine und Waffenlieferungen an die eine Kriegspartei.

Jo Lang, einst Bürgerschreck und Armeeabschaffer, tritt jetzt als Sprachrohr der GSoA an Demos in ukrai­ni­sches Fahnentuch gehüllt auf und verkündet: «Es ist doch logisch, dass sich die Ukraine mit Waffen verteidigt. Wir als Pazifisten wollen nicht, dass ein Kriegsherr wie Putin gewinnt. Darum ist es zulässig, dass man gewisse Waffen liefert.»

An ihrer Vollversammlung Anfang Mai 2024 hat die GSoA eine Resolution zur Ukraine verab­schiedet. Originalton: «Wer für den Frieden ist, übt maximalen Druck aus, um Putins Macht zu schwächen und ihn so an den Verhandlungstisch zu zwingen…». Kein Wort gegen Waffenlieferungen, keine Forderung nach Waffenstillstand, wie es sich für eine Friedensbewegung gehört.

Diese kriegs­trei­be­rische Rhetorik stösst bei Friedensaktivist:innen aber auf Widerstand. In ihrem offenen Brief an die GSoA bezeichnet Denise Plattner, Rechtsberaterin beim IKRK, die Resolution als Verrat am ukrai­ni­schen Volk, das sich nichts sehnlicher wünsche, als dass die Feindseligkeiten schnellst­möglich einge­stellt würden. «In jedem Fall muss allein die Ukraine auf demokra­tische Weise über ihr Schicksal entscheiden, und es ist sicherlich nicht die Aufgabe eines fremden Staates und schon gar nicht einer Gruppierung, die sich als anti-milita­ri­stisch versteht, darüber zu entscheiden, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit das Töten aufhört», führt Plattner weiter aus und fordert die GSoA auf, ihre Position zu überdenken.

Sofern sie aller­dings an ihrer Richtung festhält und weiterhin mit Waffen Frieden schaffen will, sollte die sich als lauteste Stimme der Schweizer Friedensbewegung aufplu­sternde GSoA umgehend ihren Namen ändern. Alles andere wäre Etikettenschwindel für dieses Grüpplein, das orien­tie­rungslos herumrudert.

P.S. Beim Verein «Schweizerische Friedensbewegung» ist noch drin, was drauf steht. Pazifismus pur. Nachzulesen etwa auf ihrer Homepage oder in der Zeitung «Unsere Welt».

Kommentar von Wolf Linder in der NZZ vom 16.7.2024 zu Neutralität und Nato – aufschluss­reich und auf den Punkt gebracht:

Friedenspreise an Anne Applebaum – eine Bankrotterklärung

1936 erhielt der deutsche Publizist Carl von Ossietzky den Friedensnobelpreis. Damit ehrte die Jury einen unerschrockenen Pazifisten, der zeitlebens gegen Totalitarismus, Aufrüstung und Krieg angeschrieben und sich auch politisch engagiert hat.

In Nazi-Deutschland wurde der Herausgeber der Berliner Wochenzeitschrift «Die Weltbühne» deswegen ab 1932 wiederholt verhaftet und gefoltert. 1938 starb Ossietzky im Alter von 49 Jahren an den Folgen der durch die Nazis verübten Misshandlungen und Haftbedingungen.

In Erinnerung an Ossietzkys unermüd­liche Friedensarbeit verleiht die Stadt Oldenburg seit 1984 im Zweijahresrhythmus den Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik. Dieses Jahr ging er an die US-ameri­ka­nische Historikerin und Publizistin Anne Applebaum.

Nun wurde bekannt, dass Applebaum im Oktober auch noch den renom­mierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche entge­gen­nehmen darf. 

Da stellt sich sogleich die Frage: Was hat Frau Applebaum denn Preiswürdiges gemacht, um sich gleich zweifach für einen (deutschen) Friedenspreis zu qualifizieren?

Ausgerechnet Anne Applebaum, die seit Beginn des Kriegs in der Ukraine nicht müde wird, unentwegt und auf allen Kanälen eine Ausweitung der Waffenlieferungen an die Ukraine zu fordern. Anne Applebaum, die Waffenstillstandsgespräche mit Putin rundweg ablehnt und prophezeit: «Der Krieg wird enden, wenn Russland versteht, dass es keine imperia­li­stische Macht mehr ist. Wir können Russland darin unter­stützen, indem wir der Ukraine helfen, ihr Territorium zurückzugewinnen.»

Mehr noch: Applebaum beschwört die Notwendigkeit einer signi­fi­kanten Steigerung der Waffenproduktion in Europa. Aufrüstung sei nötig, so ihr Rezept, um die Demokratien gegen die wachsende Gefahr durch Autokratien zu vertei­digen. Mit einer deutlichen Stärkung der NATO glaubt sie die Sicherheit in Europa und namentlich der Ukraine zu garantieren.

Applebaums Begeisterung für die NATO ist nicht neu: In den 1990er Jahren hatte sie sich, gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem polni­schen Europapolitiker und Aussenminister Radoslaw Sikorski, für den NATO-Beitritt Polens stark gemacht. Gemeinsam gelten sie seither als Power-Paar der konser­vativ-liberalen Elite, das auch vor lautem Säbelrasseln nicht zurück­schreckt: Es war Sikorski, der im Frühjahr verlauten liess, NATO-Soldaten würden bereits in der Ukraine kämpfen…

Anne Applebaum ist demnach alles andere als eine Friedensstifterin. Trotzdem wird die Wahl in den deutsch­spra­chigen Medien weitgehend begrüsst, ja gar eupho­risch gelobt.

«Mit Anne Applebaum erhält eine Historikerin den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, die einen allzu schlichten Friedensbegriff scharf kriti­siert. Eine gute Wahl», applau­diert etwa Zeit online. Vor dem Hintergrund der osteu­ro­päi­schen Erfahrungen weise Applebaum in ihren histo­ri­schen Arbeiten immer wieder darauf hin, dass «Frieden» ein Deckname für Unterdrückung sein könne, wo Freiheit und Gerechtigkeit fehlten.

Auf der ganzen Welt gibt es Menschen, die sich dafür engagieren, Kriege zu beenden und Brandherde zu löschen, bevor sie zu Kriegsschauplätzen werden. Frau Applebaum gehört mit Bestimmtheit nicht in diese Kategorie. Und man fragt sich: Wie um Himmelswillen kommen hochdo­tierte Jurys dazu, eine NATO-Promotorin zur Friedenspreisträgerin zu küren?

Das Statut hinter dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels lautet:

«Die Stiftung dient dem Frieden, der Menschlichkeit und der Verständigung der Völker. Dies geschieht durch die Verleihung des Friedenspreises an eine Persönlichkeit, die in hervor­ra­gendem Masse vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen hat.»

Das ist an Deutlichkeit kaum zu übertreffen.

Ob die Wahl im neunköp­figen Stiftungsrat einstimmig erfolgt ist, wissen wir nicht. Sie ist aber ein politi­sches Signal, das den Stiftungszweck der Lächerlichkeit preisgibt. Applebaums Kriegs- und Aufrüstungsrhetorik kann man zur Kenntnis nehmen. Was sie «hervor­ra­gendes zur Verwirklichung des Friedensgedankens» beigetragen haben soll, bleibt das Geheimnis der Jury. 

Fazit: Mit diesen beiden Auszeichnungen für Anne Applebaum werden Sinn und Zweck von Friedenspreisen ad absurdum geführt. Die in Deutschland medial breit­ge­tretene Preisverleihung in der Paulskirche ist dieses Jahr kein Ereignis. Auf alle Fälle keines, das dem Frieden dient.

Déjeuner mit bitterem Beigeschmack

Letzte Woche: Fête de la Musique in Lausanne. Am späten Vormittag ist noch nicht viel los. In einer Einkaufspassage nutzt ein A‑Capella-Quintett die tolle Akustik und beglückt eine Handvoll Passant:innen mit sehnsuchts­vollen Liedern und fetzigen Klängen.

Wärmende Sonnenstrahlen sorgen für sommer­liche Stimmung. Die Wolken haben sich verzogen, zumindest für ein paar Stunden. Wir wollen den Moment für ein Mittagessen im Freien nutzen. Und werden schon bald fündig.

Am unteren Ende einer – wie es sich für Lausanne gehört – steil abfal­lenden Seitengasse lockt ein Restaurant mit einla­dender Terrasse. Das Grappe d’Or – ein lauschiger Ort und wie wir im Nachhinein feststellen: ein Restaurant mit Spitzenküche, verdienten GaultMillau-Punkten und vernünf­tigen Preisen.

Die meisten Tische sind schon besetzt, aber wir haben Glück: Die freund­liche Kellnerin bietet uns einen Zweiertisch im Halbschatten – perfekt!

Schon beim Lesen des Menus läuft uns das Wasser im Mund zusammen. Zu Recht: Was wir kurze Zeit später serviert erhalten, schmeckt ausge­zeichnet. Dazu ein Glas Wein – was will man mehr?

Unsere Blicke schweifen entlang der Häuserfassaden. In einem Coiffeurgeschäft schneidet eine Frau einem Klienten die Haare. Eine Schulklasse von Knirps:innen, bunt gemischt, vorne und hinten behütet, zieht schnat­ternd vorbei. Ansonsten ist die Gasse ruhig, fast menschenleer.

Das Beobachten des städti­schen Lebens macht das Essen im Freien immer wieder zu einem Erlebnis. Unvermittelt zieht eine junge Frau unsere Aufmerksamkeit auf sich, weil sie versucht, ihr Fahrrad mitten in der steilen Gasse zu parkieren. Dabei kommt ihr ein halbes Dutzend Hula-Hoop-Reifen laufend in die Quere.

Zuerst stülpt sie sie über das Lenkrad – was das Velo fast zum Kippen bringt. Auf den Gepäckträger? Geht auch nicht. Schliesslich landen die Hula-Hoops mit einem lässigen Wurf auf dem Boden. Und nach einigem hin und her und vor und zurück steht das Fahrrad an der gewünschten Stelle, einiger­massen stabil, trotz Kopfsteinpflaster.

Bald wird klar: Das war nur das Vorspiel. Per Handy startet sie einen Soundteppich – und vom Gepäckträger erklingt eine sanfte, leichte Musik. Die junge Frau entledigt sich ihrer Jacke, greift nach einem der Reifen und beginnt mit ihrer Performance.

Wir staunen kurz und lassen die Gabeln stecken. Schon greift die Strassenkünstlerin zum zweiten Reifen, ihre leicht­füssige Vorstellung nimmt richtig Schwung auf… Aber nicht lange. Plötzlich taucht ein Mann in teuer-lässigem Look auf. Keine zwei Minuten nach Beginn der Performance geht er, von unserer Terrasse herkommend, auf die junge Frau zu, spricht kurz mit ihr und kehrt wieder um.

Was war das? Ein genervter Gast? – Das kann nicht sein, rundum erblicke ich nur zufriedene, entspannte Gesichter. Die Leute sind in ihre Gespräche vertieft, geniessen das Essen – niemanden scheinen die zur sommer­lichen Melodie tanzenden Reifen zu stören.

Die Strassenkünstlerin geht zum Velo, stellt die Musik leiser und greift zum dritten Reifen um ihre Darbietung fortzu­setzen. – Und schon ist der Herr wieder da. Mittlerweile ist klar: Es handelt sich um den Chef des Restaurants. Wie ein Türsteher platziert er sich mit verschränkten Armen und leicht drohendem Wippen im Schatten der Terrasse.

Die junge Frau hat keine Wahl: Sie dreht noch eine, zwei Pirouetten, stoppt die Musik und verneigt sich. Bevor sie zusam­men­packt, bedankt sie sich beim Publikum und stellt sich kurz vor: Sie komme aus Mexiko und toure für ein paar Monate durch Europa, das sie liebe… Dann packt sie hastig ihr Velo und will sich auf den Weg machen.

Wir winken die Künstlerin an unseren Tisch, um ihr wenig­stens ein paar Franken Gage in ihren Hut zu legen. Sie bestätigt unseren Verdacht: Der Patron des Restaurants hat ihr verboten, weiterzumachen.

Wir können es nicht fassen – genauso wenig wie die drei Frauen, die am Tisch neben uns ihr Dessert geniessen und nun auch zum Portemonnaie greifen, um der Artistin etwas Gage zuzustecken.

«Das schafft doch Ambiance! Für genau solche Erlebnisse fahren wir in die Ferien – und wenn es bei uns statt­findet, wird es verhindert», empören sich unsere Tischnachbarinnen.

Wir stimmen zu und denken: GaultMillau-Punkte für den Küchenchef und das Servicepersonal. Cornichon für den Patron.

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