Was bleibt

Die Liste mit mei­nen Notizen wächst und wächst. Themen – Beobachtungen, die schon längst in grif­fi­ge Worte gefasst wer­den müss­ten. Oder Dinge, über die ich in den letz­ten Tagen gestol­pert bin. Wo anfan­gen? Beim bald 70jährigen Arbeitersohn und Journalisten, der wort­reich sein Schicksal beklagt und der ent­gan­ge­nen Karriere nach­trau­ert? Oder bei den Beamten, die auf Kosten von uns SteuerzahlerInnen aus einer Reihe von Selbstverwirklichungskursen aus­wäh­len kön­nen, wäh­rend in ande­ren Bereichen, wie etwa bei Sprach- und Integrationskursen für Flüchtlinge, gespart wer­den muss?

Nein. Der 2. Januar ist seit jeher ein beson­de­rer Tag für mich. Deshalb für ein­mal ein besinn­li­che­rer Text, qua­si in eige­ner Sache. Ein Blick zurück — ein Stück Nostalgie. Erinnerungen an Erinnerungen einer Frau, die heu­te vor 112 Jahren zur Welt gekom­men ist.

Ihr Koffer, mit dem sie Mitte der 1920er ihre ers­te gros­se Reise unter­nom­men hat, steht seit Jahren als Bettzeugtruhe in mei­nem Schlafzimmer. Damals beglei­te­te er die jun­ge Frau aus Port, einem Bauerndorf im ber­ni­schen Seeland, nach Paris. Dorthin folg­te sie ihrem Schulschatz, der nach der Lehre in der Schweiz kei­ne Arbeit gefun­den hat­te und sein Glück im Ausland suchen muss­te. Während er sich dort mit Schwarzarbeit durch­schlug, hat­te sie eine «rich­ti­ge Stelle» gefun­den und lern­te als Dienstmädchen in der fran­zö­si­schen Hauptstadt die Herausforderungen eines ortho­dox jüdi­schen Haushalts kennen.

In bun­ten Farben wuss­te mei­ne Grossmutter von der «schöns­ten Zeit mei­nes Lebens» zu berich­ten. Von der stren­gen Madame und vom rau­schen­den Leben im Paris der 1920er Jahre, das sie in den frei­en Stunden zusam­men mit ihrem Liebsten ent­deckt und auf­ge­so­gen hat. Sie muss damals sehr glück­lich gewe­sen sein, vol­ler Lebenslust und Neugier. Gefühle, die sie sich in ihren Erinnerungen bewahr­te, obschon ihr das Leben spä­ter nicht nur Gutes beschert hat. Wenn sie uns an ihren Paris-Geschichten teil­ha­ben liess, erwach­te in ihr das unbe­schwer­te fröh­li­che Mädchen von damals. Und in mir die Sehnsucht nach einer Zeit und einem Ort des Glücks.

Bis heu­te sehe ich die Bilder vom jun­gen Paar, wie es durch die Strassen des Quartier Latin schlen­dert. Verliebt, aber stets auf der Hut: Sobald ein «Flic» auf­tauch­te, muss­te sich mein Grossvater, der sich ja ille­gal in Paris auf­hielt, im nächs­ten Hauseingang in Sicherheit brin­gen, um nicht kon­trol­liert zu wer­den. Gerne schil­der­te mei­ne Grossmutter mit Schalk in den Augen und einem ver­schmitz­ten Lächeln, wie ihr Charme und ihre Schlagfertigkeit den Freund mehr als ein­mal vor Busse, Knast oder Ausweisung bewahr­ten. In mei­ner Vorstellung sehe ich die Szene und den Hauseingang – gleich neben dem Moulin Rouge…

Ich weiss nicht genau, wie lan­ge die bei­den in Paris geblie­ben sind. Allzu bald, so emp­fand es mei­ne Grossmutter, war die gros­se Freiheit, weit weg von Familie und Dorf, vor­bei. Mein Grossvater hat­te einen Studienplatz am Technikum in Biel zuge­si­chert erhal­ten. Für ihn, den Sohn eines Lokomotivführers, eine gros­se Chance — aber auch Verpflichtung: Die Ausbildung ver­sprach Einkommen und die Möglichkeit, nicht nur eine Familie zu grün­den, son­dern auch für Eltern und Geschwister zu sorgen.

Vor der Rückreise scheint sich das Paar in der «Stadt der Liebe» dann noch ver­lobt zu haben. Die Postkarte, die zu die­sem Ereignis gedruckt und ver­schickt wur­de, stammt aus einem Pariser Fotostudio. La Photo-Mécanique, 43 Bd St. Martin, steht auf der Rückseite der Karte, die ich im Familienarchiv gefun­den habe. Dazu die Jahrzahl 1926.

Auf der Vorderseite der Karte, zwei jun­ge Menschen, die sich für den beson­de­ren Anlass fein gemacht haben. Er trägt Krawatte mit dem damals übli­chen Kläppchenkragenhemd und Kittel, sie eine Jacke mit modi­schem Kragen, im Décolleté eine schlich­te Kette mit Anhänger. Ihr Gesicht ist von eben­mäs­si­ger Schönheit, der Blick offen, vol­ler Selbstvertrauen und Zuversicht. 

So schaut sie mich an. Auch heu­te noch, an ihrem 112. Geburtstag, 90 Jahre nach ihrer Verlobung.

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