Perspektivenwechsel

Es ist kalt in Europa. Sogar auf der grie­chi­schen Insel Les­bos schneit es. Und immer noch und immer wie­der stran­den Schlauch­boote mit halb erfro­re­nen Men­schen. Sie wagen die gefähr­li­che Über­fahrt aus der Tür­kei nach Grie­chen­land, nach Europa trotz aller Risi­ken. Ihre Not ist gross.

Heute Mor­gen auf der erschüt­ternde Auf­ruf eines Hel­fers, der vor Ort ver­sucht, den Ankömm­lin­gen zu hel­fen. Wie er, berich­ten unzäh­lige Frei­wil­lige aus ganz Europa von den Tra­gö­dien, die sich Tag für Tag abspie­len. An den Küsten Grie­chen­lands, auf den Flücht­lings­rou­ten quer durch Europa.

Tra­gö­dien, die nicht sein müss­ten. Die nicht sein dürf­ten. Eine Schande, was sich gegen­wär­tig abspielt – und ein per­ma­nen­ter Ver­stoss gegen die Men­schen­rechte. Gegen die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­tion, die auch die Schweiz unter­zeich­net hat. Gegen die huma­ni­sti­schen Tra­di­tio­nen, deren man sich in Europa so gerne rühmt.

Wo aber kann man jene ein­kla­gen, die alles daran set­zen, Flücht­lin­gen die Flucht zu ver­un­mög­li­chen oder zu erschweren?

Ganz Europa sitzt auf der Ankla­ge­bank, inklu­sive die Schweiz. Die Ver­ant­wor­tung tra­gen jene Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker, die sich für die Auf­stockung der Grenz­schutz­agen­tur Fron­tex stark machen, statt Fäh­ren bereit­zu­stel­len, um den Men­schen auf der Flucht eine sichere Über­fahrt zu ermöglichen.

Auf der Ankla­ge­bank sit­zen all jene, die mit Hin­ter­ge­dan­ken Äng­ste schü­ren und den Unter­gang der euro­päi­schen Kul­tu­ren pro­gno­sti­zie­ren. All jene, die aus der Tat­sa­che, dass Men­schen flüch­ten müs­sen, eine Flücht­lings­krise machen. Die behaup­ten, wir stün­den vor unüber­wind­ba­ren Pro­ble­men, wenn noch mehr unge­be­tene Zuwan­de­re­rIn­nen kom­men. Wohl­ge­merkt: Unter der soge­nannte Flücht­lings­krise ver­ste­hen sie eine Krise, die uns bedroht – Europa, die Schweiz.

Für allzu viele ist diese «Krise» ein loh­nen­des Geschäft. Nicht nur Schlep­per und Schwimm­we­sten­ver­käu­fer ver­die­nen gutes Geld an jenen, die tat­säch­lich eine Krise erlei­den – den Flücht­lin­gen. Immer mehr «Ver­tei­di­ge­rIn­nen des Abend­lan­des» kochen ihre braune Suppe auf den Flam­men, die sie mit dem hyste­ri­schen Her­bei­re­den von Gefah­ren und Bedro­hun­gen schü­ren. Grau­sam, aber wahr: In der ersten Reihe mit dabei sind auch ehe­ma­lige Flücht­linge, die es mitt­ler­weile zur Auf­ent­halts­be­wil­li­gung in der Schweiz geschafft haben.

Dabei wäre es höch­ste Zeit, sich eines Bes­se­ren zu besin­nen: Wäh­rend Jahr­hun­der­ten haben Men­schen aus Europa den Rest der Welt als Wirt­schafts­flücht­linge heim­ge­sucht. Sind aus­ge­wan­dert, haben ganze Kon­ti­nente in Besitz genom­men, erobert. Oft mit töd­li­chen Fol­gen für die Men­schen, die sie in Über­see tra­fen und deren alt­ein­ge­ses­sene Kulturen.

Uns in Europa geht es bes­ser als den Indios, Abori­gi­nes oder Native Ame­ri­cans damals: Die Men­schen, die heute zu uns kom­men, sind keine Erobe­rer. Sie wol­len Sicher­heit, und sie möch­ten teil­ha­ben, an die­sem viel­ge­rühm­ten Europa mit sei­nem legen­dä­ren Wohlstand.

Seit Jahr­hun­der­ten wis­sen Euro­päer und Aus­wan­de­rer aus Europa den Rest der Welt für ihre Zwecke nutz­bar zu machen. Das hatte teils fatale geo­po­li­ti­sche Fol­gen, die in Kriege aus­ar­te­ten. Die Waf­fen, die wir bis heute in Kriegs­ge­biete ver­kau­fen sind nur das kras­se­ste Bei­spiel dafür, wie Europa ganz direkt dazu bei­trägt, dass Men­schen flie­hen müs­sen. Wäh­rend wir gleich­zei­tig so tun, als wären wir die Bedrohten.

Dabei könnte man die Situa­tion auch ganz anders sehen. Als Chance: Europa ist über­al­tert, bei der ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung sind die Gebur­ten­ra­ten fast über­all rück­läu­fig. Europa braucht neue Impulse, einen Neuaufbruch.

Auf die Frage, ob Deutsch­land zwei Mil­lio­nen Migran­tIn­nen ver­kraf­ten könne, ant­wor­tete Yanis Varou­fa­kis kürz­lich: «Natür­lich kann es das. Die Geschichte zeigt, dass seit der Vor­stein­zeit immer jene Regio­nen pro­fi­tiert haben, die Migran­tIn­nen will­kom­men hies­sen. Schlecht weg­ge­kom­men sind jene, die Leute expor­tiert haben. Die USA wären heute keine Welt­macht, wenn sie im 19. Jahr­hun­dert Zäune gebaut hätten.»

Schadensbegrenzung

Sach­kun­dig macht sich der Experte an die Arbeit. Die Ver­si­che­rung hatte ihn auf­ge­bo­ten, um die Offerte für die Lif­t­re­pa­ra­tur zu überprüfen.

Auch der Motor der Lift­an­lage war wäh­rend Stun­den im Was­ser, die Steue­rung teil­weise. Ent­spre­chend gross ist die Anzahl der Teile, die laut Offerte der Lift­firma AS – einer Toch­ter der Schind­ler Auf­züge – ersetzt oder gründ­lich revi­diert wer­den müs­sen. Aller­dings haben die Mon­teure von AS, die den Scha­den begut­ach­tet und die Offerte erar­bei­tet haben, offen­bar nicht jeg­li­che Funk­tion dar­auf­hin über­prüft, ob sie mög­li­cher­weise das Was­ser über­stan­den hat.

Posten in der Offerte, die auf blos­sen Annah­men basie­ren, lässt der Experte nicht gel­ten. Ob der Scha­den am Motor so gross sei, wie in der Offerte behaup­tet, zeige sich erst, wenn des­sen Antrieb demon­tiert und aus­ein­an­der genom­men wor­den sei, sagt er. Und ver­ein­bart mit dem AS-Ver­tre­ter einen wei­te­ren Ter­min. Auch Netz­ge­rät und Steue­rung will er nicht unge­schaut ersetzt wis­sen. Im Siche­rungs­ka­sten steckt immer noch die kaputte Siche­rung – nach eini­gem Suchen fin­det sich ein Ersatz. Und siehe da: Die Anlage springt an…

Was nur bedingt erstaunt. Auch andere elek­tri­sche und elek­tro­ni­sche Geräte haben die Flu­tung über­lebt. Aller­dings ist die Wahr­schein­lich­keit gross, dass die feucht gewor­de­nen Teile von innen her vom Rost zer­fres­sen wer­den und in ein paar Wochen oder Mona­ten eben­falls den Geist auf­ge­ben. Endgültig.

Alle ande­ren elek­tri­schen Anla­gen im Haus, die unter Was­ser gestan­den haben, wer­den des­halb ersetzt – anstands­los. Beim Lift hin­ge­gen, hat der Experte sein Veto ein­ge­legt – weil ein Teil der Anlage, nament­lich das Netz­ge­rät, nie unter Was­ser gestan­den sei.

Dass man der Firma AS genau auf die Fin­ger schaut, leuch­tet den Lift­be­sit­zern ein. Auch sie haben sich schon von einem Exper­ten bera­ten las­sen, nach­dem der täg­lich benutzte Lift nach einer Revi­sion plötz­lich kaputt war und eine Repa­ra­tur von meh­re­ren Tau­send Fran­ken ins Haus stand. Das Myste­rium konnte aller­dings nie geklärt wer­den und sie muss­ten bezah­len. Wie auch für den Ersatz des defek­ten Not­lichts (eine kleine Leucht­di­ode, die aber gesetz­lich vor­ge­schrie­ben ist), wofür AS das ganze Steue­rungs­pa­nel in der Lift­ka­bine aus­wech­selte. Es gehe nicht anders, hiess es von der Firma.

Das Geschäft mit den Auf­zü­gen ist hier­zu­lande ein mono­po­li­sier­tes. Umso wich­ti­ger sind die Exper­ten, die die Geschäfts­me­tho­den von Schind­ler, Ortis und Co ken­nen und durch­leuch­ten. Aller­dings han­delt es sich natür­lich auch hier nicht um „neu­trale“ Fachleute.

Der Experte, der von der Ver­si­che­rung bei­gezo­gen wird, ist dafür bezahlt, deren Inter­esse zu ver­tre­ten. Zudem ist anzu­neh­men, dass er nach Auf­wand ent­schä­digt wird: Je län­ger und genauer er sich den Scha­den anschaut, desto grös­ser sein Ver­dienst. Vor allem aber wird er ver­su­chen, den Preis der Offerte soweit als mög­lich zu drücken. Je mehr er erreicht, desto zufrie­de­ner sind seine Kunden.

Der näch­ste Posten in der Offerte für die Lif­t­re­pa­ra­tur nach der Über­schwem­mung, der der Prü­fung des Exper­ten Prü­fung nicht stand­hält, ist der Ersatz der Trag­seile. Ein kur­zer Blick genügt ihm, um fest­zu­stel­len, dass sie kei­nen Rost ange­setzt haben. Aller­dings emp­fiehlt die Her­stel­ler­firma Brugg AG drin­gend, die Stahl­seile nach einem sol­chen Scha­dens­fall zu erset­zen. Mög­li­cher­weise ste­hen auch bei die­ser Emp­feh­lung Eigen­in­ter­es­sen im Vor­der­grund: Die Seil­her­stel­ler wol­len Seile ver­kau­fen. Aller­dings ken­nen sie ihre Pro­dukte sehr genau und wol­len keine Risi­ken zulas­sen. Die Emp­feh­lung, ein unver­zink­tes Seil, das teil­weise im Was­ser stand zu erset­zen, erscheint gar der Laiin plausibel.

Als Eigen­tü­me­rin und Lift­mit­be­sit­ze­rin bleibt des­halb ein ungu­tes Gefühl: Darf der Experte sich über sol­che Emp­feh­lun­gen hin­weg set­zen? rMüsste man nun sei­ner­seits einen Exper­ten bei­zie­hen, oder die neuen Seile sel­ber bezahlen?

Womit wir beim Kern­thema wären: Das liebe Geld. Es darf davon aus­ge­gan­gen wer­den, dass bereits heute die Kosten für Begut­ach­tun­gen und Streit den Betrag, den der Experte schliess­lich mit sei­nen Inter­ven­tio­nen her­un­ter­han­delt, längst übersteigen.

Was bleibt

Die Liste mit mei­nen Noti­zen wächst und wächst. The­men – Beob­ach­tun­gen, die schon längst in grif­fige Worte gefasst wer­den müss­ten. Oder Dinge, über die ich in den letz­ten Tagen gestol­pert bin. Wo anfan­gen? Beim bald 70jährigen Arbei­ter­sohn und Jour­na­li­sten, der wort­reich sein Schick­sal beklagt und der ent­gan­ge­nen Kar­riere nach­trau­ert? Oder bei den Beam­ten, die auf Kosten von uns Steu­er­zah­le­rIn­nen aus einer Reihe von Selbst­ver­wirk­li­chungs­kur­sen aus­wäh­len kön­nen, wäh­rend in ande­ren Berei­chen, wie etwa bei Sprach- und Inte­gra­ti­ons­kur­sen für Flücht­linge, gespart wer­den muss?

Nein. Der 2. Januar ist seit jeher ein beson­de­rer Tag für mich. Des­halb für ein­mal ein besinn­li­che­rer Text, quasi in eige­ner Sache. Ein Blick zurück – ein Stück Nost­al­gie. Erin­ne­run­gen an Erin­ne­run­gen einer Frau, die heute vor 112 Jah­ren zur Welt gekom­men ist.

Ihr Kof­fer, mit dem sie Mitte der 1920er ihre erste grosse Reise unter­nom­men hat, steht seit Jah­ren als Bett­zeug­truhe in mei­nem Schlaf­zim­mer. Damals beglei­tete er die junge Frau aus Port, einem Bau­ern­dorf im ber­ni­schen See­land, nach Paris. Dort­hin folgte sie ihrem Schul­schatz, der nach der Lehre in der Schweiz keine Arbeit gefun­den hatte und sein Glück im Aus­land suchen musste. Wäh­rend er sich dort mit Schwarz­ar­beit durch­schlug, hatte sie eine «rich­tige Stelle» gefun­den und lernte als Dienst­mäd­chen in der fran­zö­si­schen Haupt­stadt die Her­aus­for­de­run­gen eines ortho­dox jüdi­schen Haus­halts kennen.

In bun­ten Far­ben wusste meine Gross­mutter von der «schön­sten Zeit mei­nes Lebens» zu berich­ten. Von der stren­gen Madame und vom rau­schen­den Leben im Paris der 1920er Jahre, das sie in den freien Stun­den zusam­men mit ihrem Lieb­sten ent­deckt und auf­ge­so­gen hat. Sie muss damals sehr glück­lich gewe­sen sein, vol­ler Lebens­lust und Neu­gier. Gefühle, die sie sich in ihren Erin­ne­run­gen bewahrte, obschon ihr das Leben spä­ter nicht nur Gutes beschert hat. Wenn sie uns an ihren Paris-Geschich­ten teil­ha­ben liess, erwachte in ihr das unbe­schwerte fröh­li­che Mäd­chen von damals. Und in mir die Sehn­sucht nach einer Zeit und einem Ort des Glücks.

Bis heute sehe ich die Bil­der vom jun­gen Paar, wie es durch die Stras­sen des Quar­tier Latin schlen­dert. Ver­liebt, aber stets auf der Hut: Sobald ein «Flic» auf­tauchte, musste sich mein Gross­va­ter, der sich ja ille­gal in Paris auf­hielt, im näch­sten Haus­ein­gang in Sicher­heit brin­gen, um nicht kon­trol­liert zu wer­den. Gerne schil­derte meine Gross­mutter mit Schalk in den Augen und einem ver­schmitz­ten Lächeln, wie ihr Charme und ihre Schlag­fer­tig­keit den Freund mehr als ein­mal vor Busse, Knast oder Aus­wei­sung bewahr­ten. In mei­ner Vor­stel­lung sehe ich die Szene und den Haus­ein­gang – gleich neben dem Moulin Rouge…

Ich weiss nicht genau, wie lange die bei­den in Paris geblie­ben sind. Allzu bald, so emp­fand es meine Gross­mutter, war die grosse Frei­heit, weit weg von Fami­lie und Dorf, vor­bei. Mein Gross­va­ter hatte einen Stu­di­en­platz am Tech­ni­kum in Biel zuge­si­chert erhal­ten. Für ihn, den Sohn eines Loko­mo­tiv­füh­rers, eine grosse Chance – aber auch Ver­pflich­tung: Die Aus­bil­dung ver­sprach Ein­kom­men und die Mög­lich­keit, nicht nur eine Fami­lie zu grün­den, son­dern auch für Eltern und Geschwi­ster zu sorgen.

Vor der Rück­reise scheint sich das Paar in der «Stadt der Liebe» dann noch ver­lobt zu haben. Die Post­karte, die zu die­sem Ereig­nis gedruckt und ver­schickt wurde, stammt aus einem Pari­ser Foto­stu­dio. La Photo-Méca­ni­que, 43 Bd St. Mar­tin, steht auf der Rück­seite der Karte, die ich im Fami­li­en­ar­chiv gefun­den habe. Dazu die Jahr­zahl 1926.

Auf der Vor­der­seite der Karte, zwei junge Men­schen, die sich für den beson­de­ren Anlass fein gemacht haben. Er trägt Kra­watte mit dem damals übli­chen Kläpp­chen­kra­gen­hemd und Kit­tel, sie eine Jacke mit modi­schem Kra­gen, im Décol­leté eine schlichte Kette mit Anhän­ger. Ihr Gesicht ist von eben­mäs­si­ger Schön­heit, der Blick offen, vol­ler Selbst­ver­trauen und Zuversicht. 

So schaut sie mich an. Auch heute noch, an ihrem 112. Geburts­tag, 90 Jahre nach ihrer Verlobung.

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