Boat People

Ihr Blick trifft mich völ­lig uner­war­tet. Das ärm­lich geklei­dete Paar passt so gar nicht in diese üppige Gale­rie, wo vik­to­ria­ni­scher Prunk an längst ver­gan­gene Zei­ten erin­nert: Reich ver­zierte Möbel­stücke und Nip­pes schmücken den Raum, die Wände sind dicht behängt mit Por­träts von Adli­gen in noblen Gewän­dern, Still­le­ben und Land­schafts­bil­dern mit raf­fi­nier­ter Lichtführung.

Das Fitz­wil­liam Museum in Cam­bridge beher­bergt eine exqui­site Samm­lung von Kunst­wer­ken aus Gross­bri­tan­nien – und dem Rest der Welt. Es ist eine wahre Fund­grube für all jene, die die schö­nen Kün­ste lie­ben: Von alt­ägyp­ti­schen Sar­ko­pha­gen über korea­ni­sche Vasen bis zu einer fas­zi­nie­ren­den Werk­schau der ita­lie­ni­schen Zei­chen­kunst… Die Werke ver­füh­ren zum Schwel­gen. Die mei­sten von ihnen, zusam­men­ge­tra­gen in einer Epo­che, als Gross­bri­tan­nien noch eine Welt­macht war, sind Zeu­gen des Reich­tums der bri­ti­schen Upper Class. Sie wider­spie­geln Geschmack, Inter­es­sen und Träume jener, die es sich lei­sten konn­ten, sol­che Werke in Auf­trag zu geben oder zu sammeln.

Umso auf­fäl­li­ger das kleine Bild vom über­füll­ten Boot. Im Vor­der­grund ein jun­ges Paar, die Hände inein­an­der ver­schlun­gen. Er, in brau­ner Jacke, auf dem Kopf ein breit­krem­pi­ger Hut, starrt ange­spannt vor sich hin. Ihr Blick hin­ge­gen ver­liert sich in der Weite. Auf dem Gesicht ein kaum zu beschrei­ben­der Aus­druck. Trauer, Angst, Ent­schlos­sen­heit? Unter dem roten Cape ver­bor­gen trägt sie ein Kind. Davon zeu­gen die win­zi­gen Fin­ger­chen, die der Maler der Mut­ter in die freie Hand gelegt hat.

«The last of Eng­land» heisst das Gemälde von Ford Madox Brown, von dem er meh­rere Kopien ange­fer­tigt hat. Das Ori­gi­nal ent­stand 1856 und zeigt einen Freund des Malers, der aus wirt­schaft­li­cher Not mit sei­ner Fami­lie nach Austra­lien aus­wan­dert, um dort sein Glück zu ver­su­chen. Das Paar sitzt auf dem Ober­deck, im Heck des Schif­fes. Hin­ter den bei­den, dicht an dicht, sind wei­tere Pas­sa­giere zu erken­nen. Das Meer ist rau, das Wet­ter stür­misch: Das Schiff tanzt wie eine Nuss­schale auf den hohen, schaum­ge­krön­ten Wel­len. Eine beklem­mende Szene, die an aktu­elle Bil­der erinnert.

Es mag viele Unter­schiede geben, zwi­schen den Aus­wan­de­rern von damals und den Boots­flücht­lin­gen aus Afrika und Asien, die heute ver­su­chen, in kaum fahr­tüch­ti­gen Boo­ten über das Meer nach Europa zu gelan­gen. Die Motive aber sind immer wie­der die glei­chen: Men­schen bre­chen auf, neh­men unab­schätz­bare Risi­ken in Kauf und wagen die Reise ins Unge­wisse weil sie hof­fen, so dem Elend zu ent­kom­men und in der Ferne Arbeit und ein Aus­kom­men zu finden.

In der Zeit, als Ford Madox Brown sein Bild malte, wur­den die Armen Euro­pas zu Hun­dert­tau­sen­den von den Eli­ten dazu ermu­tigt oder gezwun­gen, ihre Hei­mat zu ver­las­sen. Immer­hin konn­ten jene, die damals auf­bra­chen, dar­auf hof­fen, dass am andern Ende der Welt ein Neu­an­fang gelingt. Diese Hoff­nung erfüllt sich für die heu­ti­gen Aus­wan­de­rer nur in Aus­nah­me­fäl­len. Weil wir heu­ti­gen Eli­ten im rei­chen Europa immer noch die glei­che Hal­tung ver­tre­ten und alles daran set­zen, arme Aus­wan­de­rer von unse­rem Ter­ri­to­rium fern zu halten.

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