«Das ist wohl das Ende der Atomkraft – oder der Anfang vom Ende,» meint die blonde Frau im Zug zu ihrem Sohn, während sie im Blick am Abend blättert. «Ausser in China,» erwidert dieser trocken. Die Mitteilung, dass der chinesische Volkskongress heute einen massiven Ausbau der Kernenergie beschlossen hat, ist in der Rubrik «Absurdistan» gelandet.
Vor einer Woche wäre der Beschluss dem Boulevardblatt wohl keine Zeile wert gewesen. Drei Schülerinnen, ebenfalls im Blick am Abend blätternd, rätseln: Was passiert eigentlich, wenn man Radioaktivität erwischt? Schulterzucken – die eine mutmasst: «Ich glaube, dir selber macht es nichts, aber deinen Nachkommen…» Jemand aus dem Abteil nebenan hilft weiter: «Radioaktivität gibt Krebs.» Die Teenagerinnen blättern weiter: «Die Welt ist schon ungerecht. Uns in der Schweiz geht es immer so gut – hier gibt’s nie Erdbeben, und Tsunamis sowieso nicht.» Sie zeigen sich gegenseitig die Bilder von Zerstörung und Leid und seufzen tief. Damit ist das Thema erledigt.
Für weitaus mehr Gesprächsstoff sorgt Charly Sheen, der abgesetzte Serienstar von «Two and a Half Men». Sein Grössenwahn könnte dazu führen, klagt die eine, dass die Geschichte nun gar nie ein richtiges Ende erhält. Damit müsse man angesichts der wiederholten Drogen- und Alkoholexzesse des Schauspielers rechnen, was wirklich sehr ärgerlich sei. Die anschliessende Diskussion, ob Manschettenknöpfe mit eingravierten Initialen oder doch eher ein gemeinsamer Wellnesstag im Solbad Schönbühl inklusive Massage das geeignete Geburtstagsgeschenk für den Liebsten sei, finde ich eher langweilig.
Also blättere auch ich in besagtem Gratisblatt. Und siehe da: Eine ganze Seite ist, unter dem Titel «Der GAU im Körper», den Auswirkungen radioaktiver Strahlungen auf den menschlichen Körper gewidmet. Liebe Mädchen – wie konntet ihr das übersehen! Hier steht es schwarz auf weiss: «Akute Strahlenkrankheit führt zu sofortiger Übelkeit und Schwäche. Dann folgt die sogenannte «Walking-Ghost-Phase», bei der man sich mehrere Tage wohl fühlen kann, bevor die Sterbephase eingeleitet wird: Zelltod im Magen-Darmtrakt, starker Durchfall, Blutungen, Tod innert weniger Tage.»
Oder wolltet ihr es gar nicht so genau wissen? Genauso wenig, wie die weiteren Ausführungen auf der gleichen Zeitungsseite, betreffend die schätzungsweise 25’000 Aufräumarbeiter von Tschernobyl, die an den Folgen der radioaktiven Strahlung gestorben sind und die Krebserkrankungen, die sich nach dem Reaktorunfall von 1986 in der Region häuften? Warum liefert euch der skandalumwitterte Hollywood-Schauspieler mit seinen Glamour-Geschichten mehr Gesprächsstoff als die Katastrophe in Japan? Und weshalb interessiert der Ausgang einer fiktiven Sitcom mehr als die reale Tragödie im fernen Osten? Eine Tragödie notabene, die Fragen aufwirft, die uns ganz direkt betreffen.
Deshalb müsste die abgebrochene Sitcom unbedingt fortgesetzt werden. Aus Aktualitätsgründen mit einem tragischen Helden, der in eine Atomkatastrophe gerät und an radioaktiver Verseuchung erkrankt – oder besser noch – daran stirbt.