Aus- und Einblicke

Der Blick ins Grüne war keine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Schliess­lich woh­nen wir mit­ten in der Stadt, unmit­tel­bare Nach­bar­schaft gehört zum urba­nen Leben. Beim Abwa­schen schweift der Blick zum Küchen­fen­ster hin­aus, wo im Haus gegen­über ein Frei­zeit­pi­lot per Flug­si­mu­la­tor all­abend­lich die Welt bereist. 

Unsere nörd­li­chen Nach­barn sind pas­sio­nierte Ter­ras­sen­men­schen: Im Som­mer pfle­gen sie Busch- und Blü­ten­pracht, im Win­ter strahlt ihre Weih­nachts­be­leuch­tung bis in unsere Gemä­cher. Und vom Büro­fen­ster aus ver­fol­gen wir die Jass­tur­niere auf dem gegen­über­lie­gen­den Bal­kon mit exklu­si­vem Blick in die Kar­ten des hal­ben Teilnehmerfeldes.

Im Osten aber erfreute das Grün einer mäch­ti­gen Tanne unser Auge und unser Gemüt. Mor­gen für Mor­gen begrüsste sie uns beim Auf­wa­chen; sas­sen wir an heis­sen Tagen auf dem Bal­kon, spen­dete sie Schat­ten und Gebor­gen­heit. Wind und Vögel, ihre stän­di­gen Gäste, sorg­ten für wohl­tu­ende Musik.

Eines Tages aber lag in unse­rem Brief­ka­sten ein unheil­ver­kün­den­des Schrei­ben: Die Erben hat­ten das Cha­let am Fuss der Tanne nach dem Tod sei­nes alten Besit­zers ver­kauft. Nun sollte es abge­ris­sen und durch ein 7‑Familienhaus ersetzt wer­den. Für alle Nach­ba­rIn­nen, die wei­tere Infor­ma­tio­nen woll­ten, stand die Tele­fon­num­mer des neuen Grund­stück­be­sit­zers auf dem Zettel.

In Sorge um unsere lieb­ste Nach­ba­rin rief ich sofort an. Der Herr am andern Ende bestä­tigte die schlimm­sten Befürch­tun­gen: Ange­sichts des teuer bezahl­ten Bodens und der Woh­nungs­not in die­ser Stadt sehe er sich genö­tigt, so der neue Besit­zer und Inve­stor, den Baum zu fäl­len. Dann quas­selte er irgend­wel­chen Unsinn, wie leid es ihm tue um die­ses grüne Geschöpf und dass er in sei­nen nächt­li­chen Gebe­ten die Baum­gei­ster um Ver­ge­bung bitte.

Der Tanne hat das nichts genützt: Eines Tages, als ich nach Hause kam, war sie weg. Der Schmerz war gross. Doch mit der Zeit gewöhn­ten wir uns daran, von gol­de­nen Son­nen­strah­len, die nun direkt in unser Schlaf­zim­mer schie­nen, geweckt zu wer­den. Und abends erfreute uns das warme Licht der Häu­ser­ku­lisse, die frü­her hin­ter dem Baum ver­steckt gewe­sen war. Aus dis­kre­ter Distanz eröff­ne­ten sich hier unge­ahnte Ein­blicke in häus­li­ches Leben, ein täg­lich sich wie­der­ho­len­des, vari­an­ten­rei­ches Schauspiel.

Bis das neue Nach­bar­haus höher und höher wuchs und uns die eben erst gewon­nene Aus­sicht wie­der ver­deckte. Dies­mal mit tri­sten grauen Plat­ten. Immer­hin, zwei Fen­ster in der Fas­sade ver­spra­chen neue Aus- und Einsichten…

Eines Tages, es war Mitte Dezem­ber, brannte zum ersten Mal Licht. Am 1. Januar leg­ten wir den noch unbe­kann­ten Nach­barn einen Will­kom­mens­gruss in den Brief­ka­sten. Und freu­ten uns auf ihre Reak­tion – hoff­ten auf leben­di­gen Aus­tausch, zumin­dest auf ein freund­li­ches Win­ken von Zeit zu Zeit. Immer­hin lie­gen unsere Fen­ster nur gerade mal zehn Meter auseinander…

Doch unsere Nach­barn schei­nen die Nach­bar­schaft zu scheuen. Bis heute ist unser Gruss ohne Ant­wort geblie­ben. Auch nach drei Mona­ten haben wir sie noch nicht gese­hen. Abends schlies­sen sie die Storen, so dass kaum ein Licht­schim­mer nach aus­sen dringt. Und ich ziehe neu­er­dings eben­falls die Vor­hänge – weil mich der Aus­blick auf die­sen grauen unfreund­li­chen Klotz beelendet.

Gesunder Menschenverstand

Vor zwei Tagen eine Geschichte ange­fan­gen, die durch die Erd­be­ben- und Tsu­na­mi­ka­ta­stro­phe in Japan plötz­lich eine völ­lig neue Per­spek­tive erhält. Ursprüng­lich wollte ich eine Ode schrei­ben an Men­schen, die sich gegen die Über­macht der mil­li­ar­den­schwe­ren Ener­gie­lobby uner­müd­lich dafür ein­set­zen, dass es mit dem Atom­strom bald ein Ende hat.

Wie zum Bei­spiel jene Frau, die vor­ge­stern in Karls­ruhe durch die Züge pil­gerte, freund­lich grüsste und jedem ein Blatt Papier in die Hand drückte: «Wis­sen Sie wie gefähr­lich Atom­kraft ist ??» der Titel. – In kur­zen, etwas schril­len Sät­zen hatte sie eine Reihe von Argu­men­ten auf­ge­führt, wes­halb AKWs abge­schal­tet gehö­ren – sofort. Zum Bei­spiel, weil bei einem Stör­fall «im Umkreis von 100 Kilo­me­tern alle mau­se­tot wären“ und weil es „keine ordent­li­che End­la­ge­rung für die­sen Wel­ten­ver­nich­ter» gebe.

Oder die Stand­ak­tion der Grü­nen vor einer Woche auf dem Markt in Oer­li­kon: Knall­gelb als Atom­müll-Tonne ver­klei­det, diente eine Büchse Bio-Apfel­mus als Wer­be­ge­schenk, um mit den Pas­san­tIn­nen ins Gespräch zu kom­men. Was in mei­nem Fall auch gelang: Ich hatte Zeit und Lust auf Aus­tausch mit Gleich­ge­sinn­ten – andere mach­ten einen gros­sen Bogen um die AktivistInnen.

Einen Becher heis­sen Kaf­fee in der Hand, dis­ku­tier­ten wir über die Gefah­ren der Atom­kraft und empör­ten uns dar­über, dass der Neu­bau von AKWs auch hier­zu­lande an Akzep­tanz zu gewin­nen scheint. Obschon man bis heute nicht weiss, wohin mit dem radio­ak­ti­ven Atom­müll. Und obschon es heute viel bes­sere und nach­hal­ti­gere For­men der Ener­gie­ver­sor­gung gibt.

Die gros­sen Ener­gie­kon­zerne ver­spre­chen sich von AKWs aber höhere Ren­di­ten als von Inve­sti­tio­nen in soge­nannt alter­na­tive Ener­gien. Des­halb pum­pen sie Mil­li­ar­den­be­träge ins Lob­by­ing und beschäf­ti­gen eine ganze Armada von Wer­bern, Kon­su­len­ten und Kom­mu­ni­ka­to­ren, die für gutes Geld dafür sor­gen, dass die Stim­mung «im Volk» in die «rich­tige Rich­tung» gelenkt wird. «Haben die denn keine Kin­der?» fragte meine Gesprächs­part­ne­rin und fügte ziem­lich rat­los an: «Die Atom­lobby hat soviel Geld, da kön­nen wir mit unse­ren Mit­teln nie­mals mit­hal­ten. – Was bleibt, ist die Hoff­nung auf den gesun­den Men­schen­ver­stand der Bevölkerung.»

Dann das Erd­be­ben vor Japan. Mit ver­stö­ren­der Deut­lich­keit zeigt sich ein­mal mehr, wie fra­gil unsere Zivi­li­sa­tion ist: Ein Natur­er­eig­nis führt zu immenser Zer­stö­rung. Tod und Chaos in einem hoch ent­wickel­ten Indu­strie­land, das bekannt ist für seine Kata­stro­phen­prä­ven­tion und erd­be­ben­si­che­res Bauen. Sol­chen Kräf­ten kann nicht ein­mal die raf­fi­nier­te­ste Tech­no­lo­gie wider­ste­hen, die Situa­tion gerät not­ge­drun­gen aus­ser Kon­trolle. Damit muss und kann man leben, so hart dies klingt.

Nicht natur­ge­ge­ben ist aller­dings die radio­ak­tive Gefahr, die nun zusätz­lich über dem Kata­stro­phen­ge­biet schwebt. – Auch wenn es hof­fent­lich nicht zum Schlimm­sten kommt: Die Men­schen in der betrof­fe­nen Zone sind durch die Ereig­nisse rund um die AKWs einem zusätz­li­chen hor­ren­den Trauma aus­ge­setzt. Dies wäre im Rah­men einer guten Kata­stro­phen­vor­sorge zu ver­hin­dern gewe­sen. Aller­dings gibt es dafür, wie wir ein­mal mehr gelernt haben, nur eine Form von Prä­ven­tion: Ausschalten.

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